family affairs

family affairs von Ingrun Aran

Premiere 25. November 2021
TuD Berlin

Regie: Ingrun Aran

Anne holt das Auto aus der Garage. Sie will ihren Eltern eine Freude machen. Mit ihnen noch einmal in der Eifel spazieren gehen. Denn Hugo kann nicht mehr fahren, sieht auch viel zu schlecht und Margo fährt ja keine Autobahn. Doch schon bald zeichnet sich die Tragödie ab, denn bereits nach wenigen Augenblicken fühlt Anne eine bedrückende Enge mit ihrer Mutter im Rückspiegel. Margo hat sich nämlich nach hinten gesetzt und beherrscht von dort schnell die Szene. Sie redet über ihre Ansprüche, ihre Erwartungen, ihre Enttäuschungen und ihren Mann, der darf immerhin zu Beginn der Fahrt noch vorne sitzen, weil er ja nicht mehr kann, nichts mehr mit ihm los ist. Früher war das anders, da konnte man den für alles gebrauchen, für alles ansprechen, aber heute…

hier öffnet sich Annes Gedankenraum, ein emotionaler, ein zeitloser Raum, weil Gefühle, keine Vergangenheit keine Zukunft kennen, immer im Jetzt sind, eben einfach da sind. Ein Raum also, der „alte“ Gefühle offenbart, die in der Gegenwart weiter wirken und sie so schwer erträglich machen. Denn Anne konnte ihren Vater nie ansprechen, weil er früher nur gearbeitet hat, so auch kein realer Teil der Familie war, sich keine Meinung erlaubte und nie eingriff, wenn Margo wieder durchdrehte, und Margo drehte oft durch. Ganz plötzlich, ohne klar erkennbaren Grund… ein Gegenstand, ein Wort, ein Loch in Annes Jeans genügte. Dann sah Margo den Abgrund und drehte durch.

Margo hat wenig Vertrauen zu Anne. Ihrem verlängerten Selbst, ihrem zweiten Ich, ihrem Produkt, das sie bisher leider nur enttäuscht hat. „Ne, in Münstereifel kommen wir nicht, das würd‘ mich wundern“ – das kann sie sich einfach nicht vorstellen.

Denn dieses Kind war immer nur eine ungeheure Belastung. Verdammt nochmal manchmal wollte diesem Balg einfach nur den Hals umdrehen. Es war zu viel! Zu viel! Viel zu viel und dann auch noch die Migräne. Dabei hatte es doch alles ihr zu verdanken. Er hatte es schließlich nie gewollt. Er wollte keine Kinder.

Anne gibt nicht auf, sie will ans Ziel, endlich ankommen, beweisen, dass sie die Familie wenigstens für diesen Moment zusammenbringen, ja vielleicht sogar retten kann. Doch als sie schließlich begreift, dass jeder einzelne von ihnen im Netz seiner eignen Subjektivität gefangen Täter und Opfer zugleich bleiben wird, der Humor dabei nur kurze Inseln der Entspannung aber nie einen Ausweg bietet, sieht Anne nur noch eine Möglichkeit der Abwärtsspirale der emotionalen Gewalt zu entkommen…

Warum heute?!

weil Schwarz-Weiß-Denken, extreme Stimmungsschwankungen, Impulsivität, beschädigte zwischenmenschliche Beziehungen, ein beeinträchtigtes Identitätsgefühl und Zorn mehr und mehr das Grundgefühl unserer Gesellschaft bestimmen. Einer Gesellschaft, der es an Beständig- und Verlässlichkeit mangelt, deren Mitgliedern der äußere wie der innere Kompass verloren gegangen ist und die aufgrund dessen verstärkt Borderline-Symptome entwickeln bzw. schon entwickelt haben.

Deshalb möchte Sie in family affairs zum Zeugen machen, wie verheerend sich diese Symptomatik auf die Angehörigen in einer Familie auswirkt. Wie sie dadurch innerlich abstirbt und emotional ausblutet. Wie viel Kraft es kostet aus diesem geschlossenen System, diesem Gefängnis auszubrechen, um so mehr als es durch äußere Gegebenheiten wie Arbeitsbedingungen und ökonomische Verhältnisse weiter befeuert wird. Denn Borderlinestrukturen finden sich nicht nur im Mikrokosmos der Kleinfamilie, sondern sind längst auch schon in anderen Kontexten Normalität, ja drohen sogar Gesellschaftscharakter zu werden.

produktion: Ingrun Aran – mit: Mareile Metzner im video: Uwe Neumann – video/raum:Ingrun Aran – dramaturgische mitarbeit: Mareile Metzner – assistenz: Leonie Venzau – bühnenbau: Paul Klier, Max Gottschalk – dank an: Cécile Wagner & Optik Bösche

Regie – Text – Video